Kontinuität und Entwicklung: Ein Blick in die Geschichte des 20. Lehrgangs Leiten und Beraten

Der Ausgangspunkt

Im Jahr 1980 hatte sich die Sektion Gruppendynamik im DAGG (Deutscher Arbeitskreis für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik), heute DGGO (Deutsche Gesellschaft für Gruppendynamik und Organisationsdynamik), dazu entschlossen, eine gruppendynamische Weiterbildung für Menschen ins Leben zu rufen, die in verschiedenen beruflichen Feldern (Bildung, soziale Arbeit, Gesundheit etc.) professionell mit Gruppen und Teams arbeiten. Es wurden Rahmenrichtlinien für das Curriculum Leiten und Beraten von Gruppen beschlossen und in verschiedenen Bildungseinrichtungen und Instituten begannen gruppendynamische Trainer:innen, diese Lehrgänge anzubieten. (ausführlich vgl. www.dggo.de)

Der erste Kurs

Die Geschichte dieses Lehrgangs beginnt im Familien- und Weiterbildungszentrum Haus Buchberg in Neuenbürg. Elisabeth Gast-Gittinger, Elisabeth Hürter und Dr. Jochen Schmidt (Trainer:innen der Sektion Gruppendynamik im DAGG, später DGGO) starteten 1983 den ersten Lehrgang „Gruppendynamik und Selbstorganisation“.

Zwei Besonderheiten dieses Lehrgangs: Familiendynamik und Selbststeuerung

Diese zwei Schwerpunkte unterschieden sich (und unterscheiden sich bis heute) deutlich von den anderen Konzepten der Anbietenden in der DGGO.

Elisabeth Hürter prägte entscheidend den Fokus Familiendynamik: Das aufkommende Interesse an familientherapeutischen, systemischen Therapiekonzepten lenkte die Aufmerksamkeit auf die Wirkung von Familienstrukturen auf das Verhalten der Mitglieder. Unser Verhalten in Gruppen wird (nicht nur) vom hier und jetzt der Gruppe, sondern auch von unseren früheren Lernerfahrungen in Gruppen, vor allem in unserer Herkunftsfamilie geprägt. Dort haben wir grundlegend gelernt, wie wir in Gruppen auftreten, mit den daraus folgenden Möglichkeit und Begrenzungen. Um sich diese bewusst machen und die Grenzen erweitern zu können wurde – auch eine Besonderheit dieses Designs - ein fünftägiges Training „Familiendynamik“ in den Lehrgang integriert. In der Vorarbeit sind alle gehalten, in die eigene Familiengeschichte einzutauchen, Bilder mitzubringen, ein Genogramm zu fertigen.

Gruppendynamik als Praxis, Selbstorganisation als Lernziel

Jochen Schmidt war einer der ersten Trainer, der systemtheoretische, kybernetische Konzepte für die Gruppendynamik entdeckte. Selbstorganisation wurde zu seinem zentralen Begriff. Er begann damit, soziale Systeme wie Gruppen als sich selbstorganisierend, d.h. eigenen Regeln folgend und nicht von außen bestimmt, zu betrachten.

Die erfahrungsbezogene Gruppendynamik sollte Selbstorganisation erlebbar und verstehbar machen. Über die Reflexion des eigenen Prozesses sollte die Gruppe lernen, sich selbst zu steuern. Eine neue Form des (nicht hierarchischen) Lernens sollte ermöglicht werden.[1]

Das Design des Lehrgangs wurde auf das Ziel Selbstorganisation hin ausgerichtet

Der erste Abschnitt des Lehrgangs diente der Vorbereitung, Bindungen zueinander und zu den Trainer:innen sollten ermöglicht werden, damit die Basis für die später anstehenden Herausforderungen gelegt werden:

Nach einem „Entscheidungsworkshop“, bei dem die begrifflichen und theoretischen Grundlagen von Gruppendynamik und Selbstorganisation sowie das Lehrgangskonzept vorgestellt wurden, folgte ein gruppendynamisches Training zur Selbsterfahrung und dem Erfahren von Gruppenprozessen im Hier und Jetzt. Das Training Familiendynamik ermöglichte ein Verstehen der eigenen Dynamiken und erleichterte ein Erweitern bisheriger Verhaltensmuster in sozialen Systemen.

Danach begann die experimentelle Phase

Auf einem Workshop (Planung, Design) bekam die Gruppe die Aufgabe, das zu tun, was sie lernen sollte: Innerhalb bestimmter Vorgaben (11 Seminar- oder Trainingstage, 10 Tage Supervision in Untergruppen, Entwicklung eines eigenen Projektes) sollten die Teilnehmenden den weiteren Lehrgang planen und durchführen. Die Trainer:innen wirkten beratend, als Experten aber auch als Verhandlungsgegenüber mit. Ein ausgesprochen anspruchsvolles Vorhaben.

In den ersten ersten drei Durchgängen wurde mit dem selbstorganisierten Teil experimentiert. Wieviel Beteiligung der Teilnehmenden war diesen und den Trainer:innen zuzumuten?  Der Spielraum wurde ausgedehnt und wieder eingeschränkt. Zur Planung wurden zuletzt ein weiteres Training und ein Workshop freigegeben, die thematisch geplant werden sollten. Der Staff hatte gelernt, dass die Rahmenbedingungen für und die Herausforderungen zur Selbststeuerung zu den Erwartungen und Möglichkeiten der Teilnehmenden passen müssen. Zugleich durfte die eigene Bereitschaft der Trainer:innen, immer wieder ganz von vorne anzufangen, nicht überfordert werden.

Unter neuem Namen: Gruppendynamik und Selbstorganisation

Nach drei Durchgängen im Haus Buchberg musste das Bildungshaus schließen und Elisabeth und Otto Hürter gründeten mit Irmengard Hegnauer-Schattenhofer und Karl Schattenhofer die GbR „Gruppendynamik und Selbstorganisation“ (GuS-München), um den Lehrgang im bisherigen Konzept fortzuführen, jetzt aber in wechselnden Tagungshäusern im Raum München.

Aus zwei Instituten wird eins: TOPS München-Berlin e.V.

Nach drei weiteren Durchgängen kam es zur Fusion zwischen GuS München und TOPS Berlin im Jahr 2001. Der Grund hierfür war, dass TOPS Berlin keine Nachfolge für die geschäftsführende Vorsitzende Dr. Cornelia Edding fand und so seine Arbeit nicht fortsetzen konnte.

TOPS Berlin und Gus München schlossen sich zum TOPS München-Berlin e.V. zusammen, mit dem Ziel die gruppendynamischen Angebote beider Organisationen weiterzuführen. Die Kolleg:innen aus beiden Instituten setzten die Arbeit fort (die bereits genannten, Karl Heinz Geißler, Winfried Münch, Ute Bychowski und neu kamen dazu Susanne Holzbauer und Hubert Kuhn.)

Modulares System

Für TOPS München-Berlin erfanden wir ein modulares Konzept der Supervisions- und Coaching Ausbildung. Der Lehrgang Leiten und Beraten von Gruppen und Teams – Gruppendynamik und Selbstorganisation bildete ein Modul und kann seitdem als eigenständiger Lehrgang oder als erster Teil der Supervisions- und Coachingausbildung besucht werden. Das modulare System verbreiterte die Zielgruppe um die Kandidat:innen  der Supervisionsweiterbildung. Und ermöglichte so den Teilnehmenden, ihre Weiterbildung mehr an ihre individuellen Lernbedürfnisse anzupassen. Bis heute ist dieses Konzept ein voller Erfolg. Der Lehrgang fand bisher elfmal in dieser Form statt, jetzt steht der zwölfte an. Insgesamt haben an den insgesamt 19 Durchgängen ungefähr 360 Menschen teilgenommen.

Besonderheiten, die das Konzept über all die Jahre auszeichnen

1. Lernen am eigenen Leib

Ein Ziel der Weiterbildung war und ist es, etwas über Prozesse in Gruppen und die (Un-) Möglichkeit ihrer Steuerung zu lernen. Der Hauptort des Lernens und das zentrale Anschauungsobjekt ist die Gruppe der Teilnehmenden, die über den gesamten Lehrgang konstant bleibt und den eigenen Prozess erlebt, reflektiert und zu verstehen sucht.

Die einzelnen Teilnehmenden sind Objekte und Subjekte ihres Lernens zugleich. Die Trainer:innen sorgen für den entsprechenden Rahmen, in dem sie den passenden Erfahrungs- und Lernraum eröffnen und halten, ihn aber nicht – zumindest nicht alleine – füllen. Ein Raum, den die Teilnehmer:innen (mit-) gestalten, in dem sie sich mit der Gruppe gemeinsam entwickeln.

2. Grundlage Selbsterfahrung

Ein Leiten und / oder Beraten von Gruppen wird zuerst von der Person bestimmt und geprägt, die diese Rollen übernimmt. Wer sich und die eigene Wirkung in Gruppen, die eigenen Grenzen und Möglichkeiten kennt und weiß, was er / sie sich und den anderen zumuten kann, hat eine gute Basis. Geeignete Methoden und Tools kommen dazu, sind aber nicht der Ausgangspunkt und Schwerpunkt des Lernens.

3. Jede Praxis ist anders

Das Erfahrene und Gelernte kann nur in der eigenen Praxis wirksam werden, wenn untersucht und erprobt wird, was in der speziellen Situation passt und was nicht. Das geschieht in der begleitenden Supervision in kleinen Gruppen von 5-8 Teilnehmenden. Hier und auf den Workshops wird das Handwerk gelernt.

4. Roter Faden und unterschiedliche Trainer:innen

Die einzelnen Abschnitte bauen aufeinander auf, konfrontieren die Gruppe und die Einzelnen mit neuen zunehmend komplexen Herausforderungen. Einfach weiterzumachen, geht nicht, denn die jeweils neuen Aufgaben erfordern neue Herangehensweisen und eröffnen neue Erfahrungen. Die Weiterbildung bekommt so ihren roten Faden und ihren Spannungsbogen vom Beginn der Gruppe bis zu ihrem Abschluss, den es jeweils zu gestalten gilt.

Auch bei den Trainer:innen gibt es Kontinuität und Wechsel: Jeweils zwei oder drei arbeiten in einem Abschnitt zusammen im Nächsten bleibt jemand gleich und Neue kommen hinzu. Man kann mit unterschiedlichen Profis arbeiten und lernen.

5. Diversität und Intersektiorialität

In den Lehrgangsgruppen finden sich Teilnehmende aus unterschiedlichen Sektoren, mit einer großen Altersspanne, weitgehend aus dem deutschsprachigen Raum, aber seit vielen Jahre sind auch Teilnehmende aus Ungarn mit in den Gruppen. Es sind Angestellte, Selbstständige, Projektmitarbeitende, Führungskräfte, Beratende, …

Es ist eine große Anforderung für die unterschiedlichen Personen, beruflichen Ausgangslagen, Zielsetzungen im Rahmen des Lehrgangs miteinander zu lernen und eine gemeinsame (Entscheidungs-) Kultur auszubilden. Die Belohnung sind einzigartige Gruppen und die Erfahrung, einerseits eng zusammenzuwachsen und Spannungen und Unterschiedlichkeit verhandeln zu können hin zu immer besserer Verbundenheit.


[1] J. Schmidt (1989) Selbststeuernde Gruppen – ein Erfahrungsbericht- Z.f. Organisationsentwicklung, 8(3)21-31; J. Schmidt (1989) Systemisch denken lernen. Oder: Lernprozesse rekonstruieren, Lernprozesse konstruieren. Z.f. Organisationsentwicklung 8 (4).