Nachruf auf Karlheinz Geißler

Prof. Dr. Karlheinz Geißler starb am 9. November 2022 im Alter von 78 Jahren in München. Karlheinz hat TOPS 1989 mit gegründet und war ein beständiger Begleiter unserer Arbeit. Mit vielen Ideen, seinen Kontakten in die Wissenschaft und seinem umfassenden Wissen zu Themen der Arbeitswelt, der Beratung, der Gruppendynamik und natürlich in allen Zeitfragen war er stets ein wertvoller Kollege. Er hinterlässt eine Lücke, die wir nicht werden schließen können.
 
Karlheinz war vielseitig und in ganz unterschiedlichen Szenen unterwegs: als Wissenschaftler, als Autor, als Berater und Fortbildner, als scharfzüngiger und humorvoller Kommentator des Zeitgeschehens und nicht zuletzt als Kunstliebhaber und Genießer schöner Dinge und guter Küche. Wir konzentrieren uns hier auf einen bestimmten Teil seines Wirkens, nämlich sein Engagement bei TOPS, dem Weiterbildungsinstitut für Supervision, Coaching und Gruppendynamik, sowie in der gruppendynamischen Szene der Bundesrepublik Deutschland.
 
Nach dem Studium der Wirtschaftspädagogik, der Psychologie und der Philosophie und einer Tätigkeit als Diplomhandelslehrer verfasste Karlheinz seine Dissertation zum Thema „Berufserziehung und kritische Kompetenz“ (1974). Schon damals war er daran interessiert, kritische Theorie und praktische Erfahrung zu verbinden und die gewonnenen Ergebnisse weiterzuentwickeln. 1975 wurde er als Professor für Wirtschaftspädagogik an die Hochschule der Bundeswehr in München berufen.
 
In den 1970er Jahren, während der Anfänge der deutschen Gruppendynamik, nahm Karlheinz an gruppendynamischen Trainings teil und prägte die Entstehung und Profilierung der Gruppendynamik im Bildungsbereich mit. In der Sektion Gruppendynamik im Deutschen Arbeitskreis für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik DAGG wurde er das erste wissenschaftliche Mitglied. Konsequenter als viele Praktiker der ersten Stunde trat er stets für eine theoretische Fundierung der Praxis ein.
 
In gruppendynamischen Trainings zeigte sich – und Karlheinz erzählte gerne davon –, dass es ihm neben dem Erleben und Mitmachen immer auch um das Infragestellen und Dagegensein ging. Er nahm es in Kauf, deshalb in Gruppen gelegentlich an den Rand zu geraten oder sogar ausgeschlossen zu werden. Den vermeintlich eindeutigen Wahrheiten, den Autoritäten, den schnellen Lösungen zu misstrauen, diese Haltung zeichnete sein gesamtes Wirken und Werk aus. Immer könnte es eben auch anders sein und jede Intervention löst nicht nur erwünschte, sondern auch unvorhersehbare Folgen aus. Seine kritische Haltung verband er so gewinnend mit Freundlichkeit und Witz, dass der Kontakt zum Gegenüber nicht abbrach.
 
Im Rahmen seiner Professur für Wirtschaftspädagogik, die Karlheinz über 31 Jahre bis 2006 innehatte, und außerhalb derselben war er als Arbeitsweltspezialist in der Beratung, der Supervision, der Erwachsenenbildung und der Organisationsberatung unterwegs: als Fortbildner, als Erfinder von Modellen und Konzepten und immer als kritischer Beobachter der Szene. So beteiligte er sich an der Entwicklung der Supervisionsausbildungen von TOPS, des Bundesinstituts für Erwachsenenbildung in Österreich und des bayerischen Landesjugendamtes sowie als Dozent und Trainer.
 
Seine praktischen Erfahrungen reflektierte er in vielen Veröffentlichungen. Zum Beispiel verfasste er zusammen mit Marianne Hege das Standardwerk „Konzepte sozialpädagogischen Handelns“ (erstmals erschienen 1976), in dem er die zu dieser Zeit praktizierten Konzepte der Arbeit mit Gruppen auf ihre theoretische Begründung hin befragte. Seine Trilogie „Anfangssituationen“, „Schlusssituationen“ und „Lernprozesse steuern“ liefert noch heute ideenreiche und humorvolle Impulse, wie sich soziale Situationen in der Erwachsenenbildung gestalten lassen. Es sind keine Rezepte zur Optimierung und Effektivierung – gegen solche hat er sich immer gewehrt –, sondern Anregungen, die Situation zu reflektieren, zu verstehen und etwas Eigenes zu entwickeln.
 
Karlheinz hielt kritische Distanz zu den jeweils neuen Heilslehren in der Arbeitswelt, beispielsweise hinsichtlich Führung, Organisation oder Zusammenarbeit. Er war davon überzeugt, dass sich die kapitalistischen Verhältnisse in ihren Wirkungen damit vielleicht abmildern, aber keinesfalls überwinden lassen. Er war kritisch und undogmatisch links, stand auf der Seite von Arbeitnehmer:innen, hielt enge Verbindungen zu Gewerkschaften, Volkshochschulen, Sozialdemokraten – ohne jedoch Auftritte in Unternehmenskreisen zu meiden. Es bereitete ihm Vergnügen, dort vorzutragen und sein Publikum durch unorthodoxe Gedanken und Vorschläge zu irritieren.
 
Karlheinz konzipierte mit uns zusammen über 30 Jahre lang unsere regelmäßig stattfindende Fachtagung zu arbeitsweltlichen Themen und gewann viele überzeugende Referent:innen. Es verblüffte und erfreute uns immer wieder, von wie vielen Menschen in der Wissenschaft er sehr genau wusste, zu welchem Thema sie etwas zu sagen hatten. Bei der Planung unserer Tagung und bei vielen anderen Gelegenheiten wurde deutlich, wie ungemein informiert und belesen Karlheinz war. Das wirkte auf seine Kolleg:innen und Mitmenschen beeindruckend, zugleich jedoch einladend und nicht einschüchternd. Im Gegenteil, denn er war neugierig auf Ideen und Projekte. Er nahm sich Zeit, hörte zu, steuerte seinen Teil bei und dozierte nicht. Bei aller äußeren Gelassenheit war er ein harter Arbeiter und liebte die Perfektion.
 
Die TOPS-Tage waren der Ort, an dem wir auch immer wieder erleben konnten, dass Karlheinz nicht nur an seine geschriebenen Texte hohe Ansprüche stellte. Seine Vorträge waren wahre Kunstwerke: sehr genau formuliert und mit überraschenden Bildern, Filmfragmenten und Zitaten versehen. Man konnte ihm lange und mit Vergnügen zuhören, immer gespannt zu erfahren, wie es weitergeht.
 
Auch als Karlheinz nicht mehr auf seinen Rollstuhl verzichten konnte, ließ er es sich nicht nehmen, die Fachtagung zu besuchen und aktiv an ihr mitzuwirken. Im Alter von fünf Jahren war er an Polio erkrankt und konnte seitdem nicht gut laufen – eine Behinderung, die ihn entscheidend beeinflusste. Zunehmend brauchte er die Unterstützung seiner Familie, um seine vielfältigen Aktivitäten zu bewältigen. Außenstehenden bedeutete er jedoch, dass die Behinderung keine Rolle spiele, und machte ihnen damit den Kontakt leicht.
 
Bei allem Engagement für TOPS und die Gruppendynamik – im Mittelpunkt seines Interesses stand die jahrzehntelange Auseinandersetzung mit dem Phänomen Zeit. Mit der Zeit hatte Karlheinz sein Thema gefunden. In zahlreichen wissenschaftlichen und populären Veröffentlichungen entwickelte er das Thema Zeit, verbreiterte es und machte es einem großen Publikum zugänglich. Karlheinz und timesandmore, das Institut für Zeitberatung, waren für Organisationen, Unternehmen und zahlreiche Medien der erste Ansprechpartner, wenn es um das Thema Zeit ging.
 
Wir sind traurig, dass Karlheinz uns verlassen hat.
 
Cornelia Edding und Karl Schattenhofer
 
für alle Mitglieder des TOPS München Berlin e.V.:
Prof. Dr. Babette Brinkmann, Rosa Budziat, Irmengard Hegnauer-Schattenhofer, Susanne Holzbauer, Elisabeth Hürter, Hubert Kuhn, Dr. Stefanie Potsch-Ringeisen, Dr. Thomas Vogl.