Wie Systemiker professionell mit Gruppen arbeiten können

Rezension zu „Gruppen und Teams professionell beraten und leiten. Handbuch Gruppendynamik für die systemische Praxis“, Rosa Budziat, Hubert Kuhn, Vandenhoeck & Rupprecht, 2021,  ISBN 978-3-525-40776-9

Gruppendynamik für Systemiker? Wie geht das zusammen? In einem Bändchen über „Systemisches Arbeiten in und mit Gruppen“ aus dem Jahr 2002 (Molter & Hargens, Ich - du- wir, 2002) verheißt das Vorwort den Nutzen einer systemischen Haltung im Umgang mit Gruppen und deren Teilnehmern so: „Diese systemische Haltung […] fördert […] eher Lust und Leichtigkeit, indem sie an ihren Ressourcen anschließt und postuliert einen Führungsstil, der beim unkalkulierbaren Abenteuer Gruppe im Unterschied zu gruppendynamischen Konzepten nicht Angst und Macht thematisiert, sondern eher auf die Machbarkeit kleiner Veränderungen setzt.“

Das Klischee ist alt. Hier die Gruppendynamiker, die mit Macht und Angst in schweißtreibenden Trainings Aufklärung im Stuhlkreis mit der Brechstange betreiben. Da die Systemiker, die an Ressourcen orientiert mit Lust und Leichtigkeit in kleinen Schritten von Veränderung zu Veränderung tänzeln. Die Zeiten haben sich inzwischen zum Glück geändert und es ist eine neue Offenheit zwischen Systemischen Praktiker*innen und Gruppendynamiker*innen entstanden.

Heute bieten die Granden der Heidelberger Schule selbst gruppendynamische Trainings an, weil sonst eine wichtige Facette im systemischen Baukasten fehlen würde. Nicht zufällig, wie man aus dem Buch von Rosa Budziat und Hubert Kuhn erfahren kann. Die gegenwärtigen systemischen Verfahren in Beratung und Therapie und die Gruppendynamik als Forschungs- und Beratungsverfahren haben alte gemeinsame Wurzeln und ein durchaus vergleichbares Mindset.

„Gruppen und Teams professionell beraten und leiten“ ist ein Handbuch. Man nimmt es zur Hand, um praktische Hinweise und Beispiele zu erhalten, wie man eine Aufgabe anpacken kann. Dafür ist es reich bestückt mit Theorieansätzen, Methoden und illustrierenden Fallvignetten.

Das Buch beginnt und endet mit einer Ermunterung. „Keine Angst vor Gruppendynamik!“ und „Mut zur Gruppe!“ Da sprechen zwei Afficionados des gruppendynamischen Verfahrens und wollen ihren Geschwistern im Geiste, den Systemiker*innen, die Hand reichen. Die beiden Autor*innen, selbst systemisch geschult, stellen zunächst dar, wie sich Gruppen systemisch und gruppendynamisch verstehen lassen und benennen dabei wichtige Gemeinsamkeiten und Unterschiede.

Dann schlagen sie ein eigenes Modell systemischer Gruppendynamik vor, das das Beste aus zwei Welten vereint. Ihre diagnostische Brille unterscheidet individuelle, soziale und kontextuelle Dynamiken, die in Gruppen und Teams Wirkungen entfalten. Ein weiteres Kapitel stellt dar, wie sich Gruppen in ihrer zeitlichen Entwicklung, ihrer Tiefendimension und in ihren Strukturen beschreiben lassen. Hier gibt es interessante Ausflüge in gruppenanalytische Theorien, Teamphasenmodelle, in die Organisationsdynamik und einschlägige Erkenntnisse der Kleingruppen- und Sozialforschung beispielsweise zu Normen, Rollen und Status. 

Die zentralen Kapitel widmen sich der konkreten Arbeit mit Gruppen. Wie diagnostizieren systemische Gruppendynamiker eine Gruppe oder ein Team? Wie leiten sie gruppendynamische Prozesse? Wie gestalten sie ihre Rolle in Beratungsprozessen, in Moderationen oder als Führungskraft? Den Abschluss bilden „Methoden für die gruppendynamische Praxis“. Was das Handbuch für Praktiker*innen besonders wertvoll macht, ist die Verzahnung der zentralen Kapitel mit diesem reichhaltigen Methodenteil. Die meisten der theoretischen Modelle finden hier ihren „Sitz im Leben“ als anwendungsorientierte Anleitung, wie es gehen kann. Beispielsweise wird das Tuckmansche Phasenmodell zuerst als theoretisch-diagnostisches Konzept dargestellt. Im methodischen Anhang ist dann beschrieben, wie man das Modell zur Selbsterforschung eines Teams konkret einsetzen kann. So haben Rosa Budziat und Hubert Kuhn ein Handbuch vorgelegt, das nicht nur einen alten, sinnlos gewordenen Graben zwischen Systemik und Gruppendynamik überbrückt, sondern sich vor allem da bewährt, wo beide Schulen sich am liebsten tummeln: in der Praxis.

verfasst von Dr. Thomas Vogl