Das Spiegelphänomen

Der Begriff „Spiegelung“ oder „Prisma-Effekt“ gelangte Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre, also in einer Zeit, als neue sozialpsychologische Verfahren wie Gruppensupervision und Gruppendynamik aufblühten, in die Terminologie dieser Verfahren. Die Benennung und Beschreibung des Spiegelphänomens tauchte erstmals in einer Veröffentlichung von Peter Kutter und Jörg Kaspar Roth mit dem Titel „Psychoanalyse an der Universität“ auf. Beide, Kutter als Hochschullehrer und Roth als sein Mitarbeiter, experimentierten damals mit Selbsterfahrungsgruppen und Supervisionsgruppen (Balintgruppen) am psychoanalytischen Institut der Frankfurter Universität.

Der Begriff „Spiegelphänomen“ entstammt also dem psychoanalytischen Denken. Er hat aber auch Eingang in die Gruppendynamik gefunden und den Blick für bestimmte Gruppenphänomene geweitet, die im Gruppengeschehen aufflackernd mitschwingen. Was aber aufflackert und mitschwingt, so sich zunächst zur unbestimmbaren Anschauung bringt, liegt im Widerstreit zu den aktuellen Themen auf der bewussten Gruppenebene, wo die Sprechakte von „kommunikativer Kompetenz“ (Habermas), nämlich von reflexivem Bewusstsein, gekennzeichnet sind. In diese Diskurskompetenz mischen sich verschiedene zur bewussten Ebene durchaus gegenläufige oder irritierende Sprechbeiträge ein, die plötzlich die Dynamik der Gruppe beherrschen und einen Widerstreit zwischen der bewussten und unbewussten Gruppenebene erfahrbar machen.

Da eine soziodynamische Gruppe auch als ein latentes Feld für das Unbewusste zu begreifen ist, kommt es regelmäßig zu jenen Mischungen, die zu einer Art Zeitaufspreizung führen: hier die Gegenwart, dort die Vergangenheit. Das Vergangene jedoch ist nicht tot, wenngleich, zumindest im Hier und Jetzt der Gruppe, weitgehend vergessen. Es wirkt als das Prägende des einst geprägten Menschen weiterhin in den Interaktionen der Gruppe mit. Das Charakterhafte wie das Seelische wirken mit, die eigenen Wünsche und Begehren wirken mit, eben alles, was den Einzelnen aus- und erfahrbar macht, wirkt mit: seine Stimme, Gestik, Mimik, Körpersprache. Aus diesem Gemisch entfalten sich die Erscheinungsweisen des jeweils unbewussten Gruppenthemas, die zum bewussten Thema der Gruppe – etwa einen Fall analysieren oder eine bestimmte Aufgabe erledigen – in einem Komplementärverhältnis stehen. Jenes unbewusste Thema spiegelt sich im aktuellen Gruppengeschehen indirekt wider, gleich einem Prismaeffekt. Mit anderen Worten: Man kommt zur Anschauung jenes Widerstreits, wenn es gelingt, dieses unbewusste Thema signifikant zu benennen, sodass es Evidenzcharakter erhält, beispielsweise affektbesetzte und emotional gestimmte Äußerungen, bei denen es offensichtlich um Macht, Einfluss und Konkurrenz in der Gruppe geht oder um das Gruppengeschehen „Kampf- und Flucht“, wie bereits von Wilfred R. Bion in seiner Schrift „Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften“ eindrucksvoll beschrieben.